STÜCKAUSZUG

Diesseits (1. Szene)


(Ein seriös gekleideter junger MANN (DIETMAR) hinter einem Counter hält seine Hände in die Höhe. Vor ihm PAULA mit leerer, geschulterter Reisetasche und einer Pistole, die sie mit hektischen Bewegungen auf ihn richtet.)

PAULA: Das ist ein Überfall. Na los, dalli dalli, rücken Sie raus, was Sie an Schlaftabletten, Valium, Beruhigungsmitteln et cetera in Ihrer Arztpraxis vorrätig haben, alles, was für eine todsichere Überdosis notwendig ist, ich will sichergehen, dass ich nicht zu wenig einnehme. (kurze Pause, dann schärfer) Fisimatenten? Widerstand? Besser nicht, sonst jage ich eine Kugel durch Ihren tadellos, wenngleich altmodisch frisierten Kopf. Die Waffe ist scharf, sie stammt aus dem lächerlich spärlichen Nachlass meines Vaters, dem ich damit eine Kugel durchs Herz gejagt hätte, wenn er nicht an einem Gehirntumor gestorben wäre. Mein Vater war ein Versager. Eine Nullnummer. Heute ist wieder mal sein Todestag. (nach einer kurzen Pause, brüskiert) Na klar, typisch, wusste ich, jetzt denken Sie schlecht über mich, obwohl Sie nichts über mich wissen. Vorsicht! Schussangst und Ladehemmung sind Fremdwörter für mich, meine Sprache ist geradlinig und ich warne Sie, indem ich sage, dass Sie kein Recht haben, über mich zu urteilen, das ist echt fies, sehen Sie nicht, dass ich mich bemühe. Ich stehe hier und versuche, mit Ihnen zu reden. Ich mache Kontakt. Dies könnte eine Begegnung sein. Ein Gespräch. Davon zehren wir Menschen. Ich nenne das Lebensqualität. Noch nie davon gehört? Natürlich nicht. Jeder schweigt für sich allein. (sich steigernd, vorwurfsvoll) Schluss, aus, wenn das alles gewesen ist, setze ich mir lieber per Überdosis einen Schlussstrich! Berufliche Erfüllung, irgendeine sinnvolle Tätigkeit von gesellschaftlicher Bedeutung: keine blasse Spur davon in meinem Leben. Aber nicht nur das: auch Liebe hat es nicht gegeben, Leidenschaft, einen Lebenspartner, nicht einmal einen Orgasmus habe ich gehabt, (sich in ihren eigenen Gedanken verlierend) obwohl, Weihnachten vor sechs Jahren, als ich mit Max bei meiner Schwester war, da hatte ich einen. (kurze Pause) Da hab ich doch einen gehabt. Oder was war das. Hab ich den etwa nur vorgetäuscht, Scheibenkleister, könnte sein. (sich wieder fangend, den Mann voller Empörung fixierend) Na klar. Jetzt denken Sie natürlich, ist ja logisch, absolut richtig und zwangsläufig, dass die keinen Mann hat, die quatscht zuviel, da nimmt jeder seine behaarten Beine in die Hand und greift sich eine Andere, ich sehe Ihnen Ihre Gedanken an, guter Mann, und sage Ihnen, dass es widerlich und sachlich unrichtig ist, was in Ihrem tadellos, wenngleich altmodisch frisierten Kopf vor sich geht, was da geschrieben steht, ist selbstgefällig und vorurteilsbeladen, wo bleibt das Valium, die Schlaftabletten, ich bin darauf angewiesen, ich habe leider keinen Strick dabei, kein Bahngleis, auf das ich mich schmeißen könnte. Zudem wohne ich im Parterre: ich kann mich nicht mal aus dem Fenster werfen. Und den Kopf in den Gasofen stecken auch nicht. Mein Herd ist nämlich elektrisch. (verzweifelt) Her mit meiner Überdosis. Jetzt machen Sie endlich, rufe ich, dies ist ein Überfall. Packen Sie die Medikamente ein, ein bisschen plötzlich, machen Sie gefälligst, sonst schieße ich! (Sie schmeißt dem Mann die Reisetasche hin. Er rührt sich nicht. Paula wird nervös.)

PAULA: Na los, Zack, Zack, alles einpacken habe ich gesagt.

DIETMAR: (nach einer Pause) Leider muss ich Sie auf ein Detail aufmerksam machen, das von entscheidender Wichtigkeit für Sie sein könnte. (Pause) Die Arztpraxis ist nebenan.

PAULA: Was.

DIETMAR: (die Arme herunter nehmend) Sie haben sich im Gebäude geirrt. Dies ist ein Bank.

PAULA: (verdutzt) Das muss neu sein.

DIETMAR: (Kopf schüttelnd) Durchaus nicht. Wie Sie sehen, schüttele ich meinen tadellos, wenngleich altmodisch frisierten Kopf energisch. Diese Filiale existiert bereits seit neun Jahren.

PAULA: Auf einen Bankraub bin ich überhaupt nicht vorbereitet.

DIETMAR: (sie anstrahlend) Dafür, dass der Überfall gar nicht geplant war, machen Sie das hervorragend.

PAULA: (geschmeichelt) Danke.

DIETMAR: (plötzlich sehr seriös) Trotzdem muss ich Sie auf die Illegalität und Gefahren der von Ihnen beabsichtigten Aktion, nämlich dem Überfall auf eine Einrichtung mit dem Ziel, Geld und andere Wertgegenstände durch Gewalt oder Gewaltandrohung zu erbeuten, aufmerksam machen. Jeder Überfall wird rechtlich entweder als Raub oder als räuberische Erpressung eingeordnet. Das Strafmaß ist in beiden Fällen gleich: eine einjährige Freiheitsstrafe. Wenn aber – wie bei Ihnen - eine Waffe benutzt wird, beträgt die Mindeststrafe fünf Jahre Freiheitsentzug. Überlegen Sie also. Wägen Sie ab. Ihre nächsten Schritte wollen gut gewählt sein. (Pause, dann lockerer) Wenn Sie sich trotzdem für den Überfall auf die Arztpraxis entscheiden, dann gehen Sie nach nebenan. Im Moment bringt das allerdings nichts, weil die Mittagspause noch nicht vorbei ist. Die Belegschaft ist zu Tisch.

PAULA: (die Waffe sinken lassend) Ich habe aber auch wirklich gar kein Glück.

DIETMAR: Warum wollen Sie eine Überdosis nehmen?

PAULA: Das geht sie einen feuchten Kehrricht an.

DIETMAR: Wäre es nicht einfacher, sich zu erschießen? (nachdem Paula nicht antwortet) Oder einen Kaffee mit mir zu trinken, statt sich umzubringen? (Pause) Ich finde Sie nämlich sehr attraktiv.

PAULA: (irritiert) Mich?

DIETMAR: Keine Angst. Die Anziehung ist nicht ausschließlich äußerlich. Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?

PAULA: Nein.

DIETMAR: Ich heiße Dietmar.

PAULA: Sie Armer.

DIETMAR: Was ist jetzt mit dem Kaffee?

PAULA: Nein.

DIETMAR: In einer halben Stunde?

PAULA: Nein.

DIETMAR: (beunruhigt) Sind Sie verheiratet?

PAULA: Nein.

DIETMAR: (ungläubig) Bin ich etwa nicht Ihr Typ? (Blickkontakt. Dietmar sieht Paula fragend an, die sich verlegen abwendet und die Waffe anzustarren beginnt, über die eine größere Intimität zwischen den beiden entsteht.)

PAULA: Wie funktioniert so eine Waffe eigentlich.

DIETMAR: Soweit ich weiß, muss nur abgedrückt werden.

PAULA: Ich habe draußen geübt, aber es hat nicht funktioniert.

DIETMAR: Vielleicht haben Sie vergessen, den Sicherungshebel zu lösen.

PAULA: Keine Ahnung. Könnten Sie mal? (Sie reicht Dietmar die Pistole, der sie kurz betrachtet. Er zielt überraschend professionell auf etwas und drückt ab, aber auch bei ihm löst sich kein Schuss. Er gibt Paula die Waffe wieder zurück.)

DIETMAR: Klemmt.

PAULA: Scheibenkleister.

DIETMAR: (besorgt) So wird das nichts mit dem Überfall. Was ist, wenn jemand Widerstand leistet. Oder Sie attackiert. (sie ansehend) Ich will Sie nicht verlieren.

PAULA: Sie kennen mich doch gar nicht.

DIETMAR: Vielleicht die beste Basis für eine Zweierbeziehung. (zum Ursprungsthema zurückkehrend) Sie müssen in der Lage sein, Angreifer mit gezielten Schüssen in Oberschenkel oder Arm kampfunfähig zu machen. Sonst kann ich Ihnen keinen reibungslosen Ablauf des Überfalles garantieren. Wo aber können Sie den Sicherungshebel reparieren oder schmieren lassen. (nach einem kurzen Nachdenken) Beim Messerschleifer. Es gibt da ein ganz gutes Geschäft Landstraße Ecke Jägerstraße, das mir mal jemand empfohlen hat. Wenn Sie eine halbe Stunde warten, zeige ich Ihnen den Weg. Und auf dem Rückweg trinken wir einen Kaffee. Und reden darüber, wie es mit uns beiden weitergeht. (auf Paula zugehend) Machen Sie sich keine Sorgen, weil Sie bislang noch keinen Orgasmus hatten. Ich bin ein guter Liebhaber. (Plötzlich zückt Paula die Waffe und richtet sie auf Dietmar. Sie wirkt panisch.)

PAULA: Keinen Schritt näher!

DIETMAR: (erschrocken) Nicht schießen!

PAULA: (wütend) Die Waffe funktioniert doch gar nicht.

DIETMAR: (ebenfalls wütend) Wie ist Ihre Telefonnummer?

PAULA: (wie oben) Null Eins Sieben Zwei Drei Drei Vier Drei Zwei Sieben Acht.

DIETMAR: (wie oben) Dann rufe ich Sie später an. (Paula lässt die Waffe sinken. Sie wirkt jetzt schüchtern.)

PAULA: Okay. Prima. Jetzt muss ich aber fliegen. Gleich ist nämlich meine Mittagspause vorbei. Und wenn ich zu spät komme, schmeißt mein Chef mich raus.

DIETMAR: (während Paula sich zum Gehen wendet) Falls sie gezwungen sind, jemanden umzubringen, rate ich übrigens von Herzschuss dringend ab. Nur weil sie das im Zusammenhang mit Ihrem Vater erwähnt haben. Die Erfolgsquote liegt hier nämlich nur bei neunundreißig Prozent. Am effektivsten sind noch immer Kopfschüsse.

PAULA: Danke für die Info.

DIETMAR: (ihr aufmunternd zulächelnd) Das ist wie mit der Überdosis. Falsch dosiert funktioniert sie nicht. (herzlich) Ich melde mich. Viel Glück.

(Paula geht ab. Black.)