STÜCKAUSZUG

Hörst du mein heimliches Rufen (1. Szene)


(DER MANN im Lichtkegel: wirkungsbewußt, souverän. Er hält eine Rede im klassischen Politikerstil: freundlich, gefallsüchtig, mit Humor und dekorativer Betroffenheit, dabei meist künstlich und unpersönlich. Er spricht in Richtung des Publikums. In der Hand hält er seine Rede.)

DER MANN: Meine Damen und Herren, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer. Wir sind in dieser von der RheinmetallPfeil AG finanzierten Arbeitskonferenz, als deren Vertreter ich vor Ihnen stehe, einen guten, ja, zukunftsweisenden Schritt voran gekommen. (Pause) Ich selbst bin kein großer Redner, wie Sie ja wissen, bin ich für den Export zuständig, trotzdem möchte ich Sie bitten, mir kurz Gelegenheit für einige abschließende Worte zu geben. (Pause) Meine Damen und Herren, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Das Thema ist komplex. Entsprechend vielfältig sind auch die zusammen getragenen Aussagen. Und damit spreche ich nicht von dem Thema, das uns alle beschäftigt. Ich spreche nicht von Pakistan, von Pakistan und der Kriegsgefahr, die über der europäischen Welt schwebt, ich spreche nicht davon, wie es möglich ist, dass Haß und Menschenverachtung auf diese Weise kulminieren konnten. Ich spreche, liebe Staatsbürgerinnen und -bürger, nicht davon, wie Massenvernichtungswaffen modernster Technologie auf illegale Weise nach Pakistan gelangt sind, eine Praxis, die mit den Grundsätzen von Demokratie und kontrollierter Marktwirtschaft nicht vereinbar ist. Nein, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer, davon spreche ich nicht, ich spreche von Menschen in Kriegs- und Krisengebieten, von Opfern des Krieges, von Frauen und Kindern, denn darum ging es hier, darum geht es heute. (Pause) Meine Damen und Herren, mit Ihren Vorschlägen haben wir in dieser von der RheinmetallPfeil AG finanzierten Arbeitskonferenz eine gute Grundlage erarbeitet, uns bei laufenden Diskussionen zu Wort zu melden und unsere Fördermittel zielgerichtet einzusetzen. Und dass das geschieht, dafür verbürge ich mich. (Pause) Wir alle leben von der Rüstungsindustrie. Sie ist – neben der Sexindustrie, die uns hier und heute nicht beschäftigen soll – der weltweit umsatzstärkste Wirtschaftszweig. Die Rüstungsindustrie: Mutter der Demokratie nenne ich sie gerne scherzhaft, denn ohne sie wäre es niemand – keinem Pazifisten, keinem Arbeitslosen, Frührentner oder Studenten – möglich, auf so großem Fuß zu leben, wie es jetzt allseits der Fall ist. (Pause) Alle wollen Wohlstand. Und da die Rüstungsindustrie uns genau das ermöglicht, können wir uns hier – wie ich glaube - jede Polemik gegen Kernwaffen und Mobilmachung ersparen. Zum Glück, meine Damen und Herren, liebe Staatsbürgerinnen und –bürger, denn wir haben besseres zu tun, wir wenden uns humanitären Initiativen zu. Initiativen mit klaren Zielen und Anliegen, wenn ich Sie nur an unsere Versehrtenhilfe und die Wiederaufbauzuschüsse in vorderasiatischen Kriegsgebieten erinnern darf. Wir stehen für Initiativen, deren zentrales Anliegen der Mensch ist. Und in diesem Fall der Mensch auf der Schattenseite des Lebens: versehrt, obdachlos, heimatlos, arbeitsunfähig, vergewaltigt, zur Prostitution gezwungen oder – wie uns im Rahmen dieser intensiven, von der RheinmetallPfeil AG finanzierten Arbeitskonferenz auf erschütternde Weise vor Augen geführt wurde - erkrankt. (Pause) Wer krank ist, hat sich falsch ernährt oder ein verantwortungsloses Leben geführt. (Pause) Hier ist es so. Sehen Sie sich doch um: Jedes Pfund geht durch den Mund. (Pause) Aber, meine Damen und Herren, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer, angewendet auf Menschen in Kriegs- und Krisengebieten, auf Menschen, die Opfer sind, klingt diese Tatsache – ich bin sicher, Sie wissen das besser als ich - zynisch, in der Tat wäre meine Gattin, die heute leider nicht hier sein kann, viel eher in der Lage, Ihnen (mit gebrochener Stimme)...aber ich möchte nicht persönlich werden. (Pause, sehr ernst) Nur soviel will ich sagen: Menschen in Kriegs- und Krisengebieten sind in der Regel Opfer, unschuldige Opfer, die unsere Hilfe brauchen. Und die sollen sie erhalten. An dieser Stelle kommt die gute Nachricht, denn, liebe Besucherinnen und Besucher dieser von der RheinmetallPfeil AG ermöglichten Arbeitskonferenz, ich darf mit Fug und Recht und auch ein wenig Stolz behaupten, dass unser finanzieller und personeller Einsatz sich auszahlt. Wir haben in diesem wie auch in anderen Punkten auf die richtigen Koordinaten gesetzt: Menschlichkeit und Verteidigungsbereitschaft, Präsenz und Toleranz. Und Zukunft, denn Zukunft, meine Damen und Herren, Zukunft ist Herkunft. (Pause) Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Sie alle kennen Artikel Eins des Grundgesetzes. Statt diesen zu zitieren, möchte ich Sie wissen lassen, was der deutsche Dichter Friedrich Schiller vor über zweihundert Jahren in seinem Gedicht „Würde des Menschen“ formuliert hat. (Pause, ablesend) „Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.“ (wieder aufsehend) Vielleicht, meine Damen und Herren, werden diese Worte auch irgendwo in Pakistan gehört. Ich hoffe, Sie glauben wie ich an die Kraft der Poesie, die Kraft des Wortes, die keiner Waffen bedarf. (Pause) Ich möchte nun diese intensive Arbeitskonferenz schließen. Ich bedanke mich nochmals für Ihre Mitarbeit, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, und lade Sie ganz herzlich zu einem abschließenden gemeinsamen Imbiß ein. (zur Seite rufend) Darf ich um Licht bitten?

(Es wird hell. Wir sehen jetzt, wie jemand dem Mann einen offiziellen Brief in die Hand drückt, sich leicht verbeugt und wieder abgeht. Im Hintergrund steht DER ENGEL. Er nähert sich dem Mann während dessen Rede.)

DER MANN: Danke. (ins Publikum, scherzend, dabei den Brief öffnend) Meine Damen und Herren, ich maße mir nicht an, Friedrich Schiller übertreffen zu können, aber einen Ratschlag möchte ich uns allen doch noch mit auf den Weg geben: (Pause) Mensch bleiben. Viel wert in diesen Zeiten.

(Der Mann blickt aufmunternd um sich, dann beginnt er, den Brief zu lesen. Als der Engel – den er nicht bemerkt - die Hand auf seine Schulter legt, erstarrt er.)

DER ENGEL: Kein Glockengeläut. Kein Flügelrauschen. Keine Orgelmusik. Kein Jüngstes Gericht. Nur ich.

(Der Engel lacht, es klingt nach Schadenfreude. Black.)