STÜCKAUSZUG

Täter (8. Szene)


(Bahnhof, der ev. durch das entfernte Geräusch fahrender Züge angedeutet werden kann. Paul steht im Bühnenvordergrund. Er steht frontal zum Publikum und ißt eine Banane. Dann tritt Petra auf. Paul beobachtet sie, während er an seinem Rucksack hantiert und etwas zu trinken heraus holt; sie bemerkt ihn nicht.)

PETRA: (ins Publikum) Liebe, eigentlich irgendwie Eltern! Wenn Ihr diesen Brief findet, bin ich nicht mehr die Lebendige, die ich ohnehin nie gewesen bin. Ich verabschiede mich. Ich weiß hauptsächlich überhaupt nicht, warum ich überleben soll. Ich träume viel, doch kaum wache ich auf, hört es auf und ich sehe eine Sonne, die mich in den Schatten stellt. Ich habe nichts gegen die Welt. Sie gefällt mir. Ich versuche immer wieder, entgegenkommend zu sein, aber dann stehe ich vor den Abgründen des Lebens, das andere führen. Ich strecke die Hand nach ihnen aus. Der Abstand zwischen uns vergrößert sich. Ich störe nicht einmal mehr, so weit bin ich entfernt. Ich verstehe die Abgründe nicht, in die ich hinabblicke. Ich blicke zurück. Ich sehe nichts. Wenn ich nachher nach mir schieße, wünsche ich mir hoffentlich, endlich tot zu sein. Selbstaufgabe ist eine Aufgabe, die ich möglicherweise einmal löse. Zuerst wollte ich Tabletten essen, dann aber habe ich gelesen, dass man manchmal frühzeitig rechtzeitig bei sich gefunden wird, wo man nie sein wollte. Dann wird einem einsatzbereit ambulant der Mageninhalt herausgepumpt und nachher kommt man offenbar in eine geschlossene, zwanghafte Anstalt und hinterher nie wieder heraus. (Pause) Das möchte ich Euch eigentlich antun. Nein. Das streiche ich durch. Ich schreibe: Das möchte ich Euch eigentlich nicht antun. Hoffentlich könnt Ihr bestimmt alles lesen. Ich bin unauffindbar. Draußen am alten Bahnhof, wo ich mich auch letztesmal umgebracht habe. Liebe Eltern, erinnert Euch unvergeßlich an mich. Ich muß mich endlich einmal abschaffen, bevor es ein anderer macht. Ich bin. Ich werde nicht sein, aber ich bin Eure Tochter Petra (Sie holt einen Revolver hervor, den sie sich an die Schläfe hält. Paul tritt nach einer Weile der angespannten Stille zu ihr. Von Zeit zu Zeit trinkt er etwas.)

PAUL: (interessiert) Was machen Sie da?

PETRA: (zusammenzuckend) Sie haben mich zu Tode erschreckt!

PAUL: Nicht ganz.

PETRA: Was?

PAUL: Sie stehen vor mir. Wie ich an den Bahnschienen. Sie leben.

PETRA: Entschuldigen Sie. Das tut mir leid.

PAUL: Es gehört mehr dazu als Selbstmitleid, um Selbstmord zu begehen.

PETRA: (defensiv) Aber ich bin zur Entschlußfreudigkeit entschlossen! Ich werde mich beenden! Das ist kein Beinbruch. Es gibt verschieden viele unterschiedliche Möglichkeiten, sich zu töten. (nach einer Weile angestrengten Nachdenkens) Ertränken, Verbrennen, Tabletten, Erhängen...

PAUL: Erstechen.

PETRA: (den Einwurf dankbar aufnehmend) Vergiften.

PAUL: Vergasen.

PETRA: Vors Auto werfen.

PAUL: Zu Tode hungern.

PETRA: Erschießen. Irgendwie favorisiere ich meistens immer Erschießen.

PAUL: Sie wollen sich wirklich erschießen?

PETRA: Ungefähr exakt.

PAUL: Auf welche Weise?

PETRA: Ich glaube, ich dachte, Kopfschuß.

PAUL: Das ist aber sehr unsicher.

PETRA: Tatsächlich. Dann doch besser treffsicher ins Herz.

PAUL: Bewiesen wurde: Am sichersten ist es, in den Mund zu zielen.

PETRA: O.K.. Dann mache ich es einfach zwanglos einmal so. Vielen Dank. (sich die Pistole in den Mund steckend) Warum haben Sie das nicht gleich gesagt.

PAUL: Sie haben nicht gefragt.

PETRA: (die Pistole wieder aus dem Mund nehmend) Verzeihung. Das tut mir leid. Ich lege mein angelerntes Selbstbewußtsein sofort wieder zur Seite. Ich war wohl zu selbstbezogen, weil sich meine Welt pausenlos beständig nur um mich gedreht hat.

PAUL: (das Getränk wieder in seinem Rucksack verstauend) Aber überhaupt nicht. Gehen Sie nur aus sich heraus.

PETRA: Wie kommen Sie darauf. Ich brauche mich am besten in mir auf. Dort bin ich zuhause und habe die nicht unmögliche Möglichkeit, mich von der Außenwelt abzugrenzen.

PAUL: Ich habe kein Zuhause. Ich habe nicht einmal einen Vater, der mich freudvoll angefertigt hat. Ich verkörpere keinen Weltwert. Ich bin ein Wegwerfmensch.

PETRA: Ich habe auch keinen Vater, glaube ich. (Pause) Aber ich mag meine Mutter.

PAUL: Sie reden unglaublich viel Unsinn.

PETRA: (geschmeichelt) Finden Sie?

PAUL: (verlegen) Ich heiße Paul.

PETRA: Petra. (sich die Hände reichend) Ihre Hilfe hat mir hoffentlich bestimmt geholfen. Auch wenn ich von einem fremden Mann nichts Unbekanntes annehmen darf.

PAUL: Wer sagt das.

PETRA: Mein Vater.

PAUL: Den sie nicht haben.

PETRA: Ja.

PAUL: (zart) Petra.

PETRA: (ebenso) Paul.

PAUL: (nach einem langen Schweigen, verlegen) Jetzt muß ich aber gehen.

PETRA: Haben Sie zu tun? Einen Beruf?

PAUL: Ich habe keinen Beruf. Aber ich habe Begabung.

PETRA: Wofür? Ich meine. Nur ungefähr.

PAUL: (stolz, mit Schalk) Ich kann Träume wahr werden lassen. Aber das habe ich bis jetzt noch nie getan.

PETRA: (beeindruckt) Und davon kann man sich ein bezahlbares Leben ermöglichen?

PAUL: (stolz) Nein.

PETRA: Darf ich ungefähr fragen, was Sie jetzt vorhaben?

PAUL: Ich warte auf einen Zug.

PETRA: Weshalb hier?

PAUL: Ich werde mich auf die Schienen werfen. Und sterben.

PETRA: Und weiter?

PAUL: Weshalb weiter? Ich werde die Endstation bewiesenerweise bereits erreicht haben.

PETRA: (sehr klar) Verzeihung. Aber dieser Bahnhof ist stillgelegt.

PAUL: Wie bitte.

PETRA: Sie wollen sich unter unnötig erschwerten Bedingungen umbringen: Hier gibt es keinen Zugverkehr.

PAUL: (nach einer Pause) Scheiße. Das muß neu sein.

PETRA: Nein. Der Bahnhof ist bereits seit fünf Jahren stillgelegt.

PAUL: Das erklärt alles. Seit Jahren versuche ich, mich an diesem Bahnhof überfahren zu lassen. Ich bin das Opfer der Umstände. Da wird einfach der Zugverkehr eingestellt, nur um zu verhindern, dass ich mich umbringe. Nicht einmal das Recht auf den eigenen Tod hat man als Mensch, der die Welt nicht verändern wird.

PETRA: (ihm die Pistole reichend) Auch der Tod verändert nichts. Der Tod beendet.

PAUL: (auf die Pistole deutend) Was soll ich damit.

PETRA: Erschießen Sie sich! Netterweise nehmen Sie bitte mein günstiges Hilfsangebot an. Legen Sie fingerfertig Hand an sich. (mit der Pistole auf ihn zugehend) Ich werde Ihnen folgen.

PAUL: (entsetzt) Fassen Sie mich nicht an!

PETRA: Aber das würde ich niemals tun! (zerstört) Offensichtlich habe ich wieder ungefähr alles nicht richtig gemacht. Ich weiß zwar nicht, ob etwas vorgefallen ist, aber falls das der Fall ist, habe ich mich bestimmt falsch verhalten.

PAUL: Ich bin so arm dran. Es reicht.

PETRA: Ich glaube, es fängt etwas an.

PAUL: (irritiert) Was hast du gesagt?

PETRA: Ich glaube, es fängt etwas an.

PAUL: (fassungslos) Traumhaft. Ich will, dass das wahr wird. (Paul wird schlagartig bewußt, dass vor ihm sein Realität gewordener Traum steht. Ein Moment der Ruhe entsteht zwischen den beiden. Sie sehen sich an und beginnen dann, wie unter Liebenden miteinander zu sprechen.)

PETRA: (liebevoll) Du bist ein Arschloch.

PAUL: (dito) Und du redest nur Scheiße.

PETRA: Wie du aussiehst. Lächerlich.

PAUL: Aber ich bin nicht so häßlich wie du.

PETRA: Dir gelingt bestimmt gar nichts.

PAUL: Stimmt.

PETRA: Du bist ein Schlappschwanz.

PAUL: Stimmt auch.

PETRA: Eine Witzfigur.

PAUL: Ganz genau.

PETRA: Ein Versager.

PAUL: Ja.

PETRA: Impotent?

PAUL: Selbstverständlich. (romantisches Schweigen, dann zu Petra) Du bist unwahrscheinlich unweiblich.

PETRA: (geschmeichelt) Findest du?

PAUL: Vollkommen reizlos.

PETRA: Das hat man mir schon oft bescheinigt.

PAUL: Kein bißchen mütterlich.

PETRA: Danke!

PAUL: Kinderfeindlich?

PETRA: Ich hasse Kinder. Ich bin ja selbst noch eins.

PAUL: Ich auch. Willst du mit mir schlafen?

PETRA: Nein.

PAUL: Wie schön. (romantisches Schweigen) Ich liebe dich.

PETRA: Ich liebe dich auch. (Die beiden rücken etwas näher aneinander heran und fassen sich an den Händen. Es entsteht ein Bild vollkommener Unschuld und vollkommenen Glücks. Plötzlich fangen beide an zu weinen. Sie springen auseinander und halten sich die Hände vor ihre Gesichter.) PETRA u.

PAUL: (gleichzeitig) Aber warum weinst du denn?

PAUL: (weinend) Irgendwie.

PETRA: (weinend) Ach so.

PAUL: Mein Brustkorb weitet sich.

PETRA: Und ich.

PAUL: Und das tut weh.

(Black)