STÜCKAUSZUG

Weiter träumen (19. Szene)


Silvia allein. Plötzlich tritt Karl Bockmann – im weissen Krankenhaushemd – aus seinem Zimmer heraus.

KARL: (weich) Ist der Stromausfall behoben?

SILVIA: (erschrocken aufsehend) Karl.

KARL: (sich die Hände vors Gesicht haltend) Jetzt aber lichtmässig nicht übertreiben. Es blendet.

SILVIA: Bist du wach?

KARL: Was mache ich hier.

SILVIA: (wie unter Schock) Ich fahre nicht in den Bayerischen Wald. Damit das schon mal klar ist.

KARL: Ist das ein Krankenhaus.

SILVIA: Ausserdem will ich die Scheidung.

KARL: Was ist passiert?

SILVIA: Du lagst im Koma. (plötzlich realisierend, was passiert ist, ihren Mann berührt umarmend) Ich dachte, du wachst nie wieder auf. Die beiden liegen sich eine Weile in den Armen. Entspannung. Dann löst Karl die Umarmung.

KARL: (irritiert) Was hast du gesagt.

SILVIA: Du lagst im Koma. Drei Tage lang. Die Ärzte haben gesagt, dass dein Zustand Wochen oder Monate andauern könnte.

KARL: Das meine ich nicht.

SILVIA: Erinnerst du dich, wie das passiert ist? (als Karl den Kopf schüttelt) Die Polizei kann sich zwischen Überfall oder Unfall nicht entscheiden.

KARL: Du willst die Scheidung.

SILVIA: (nach einer Pause) Ja. Beide sehen sich an. Schweigen. Dann setzen sie sich.

KARL: Was ist in den drei Tagen passiert?

SILVIA: Ich habe mich verliebt.

KARL: (perplex) In wen.

SILVIA: (aggressiv) Das geht dich nichts an. Ausserdem habe ich Ursula kennengelernt. Ursula Hofknecht. Sie war es, die dich gefunden hat. In unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung. (als Karl nichts entgegnet) Jetzt sag mir bitte nicht, dass du nicht weißt, wer das ist.

KARL: Es tut mir leid.

SILVIA: Sein Name ist übrigens Hans. (bevor Karl etwas sagen kann) Kannst du mir mal verraten, wie du es fertig gebracht hast, über zwei Jahre jeden Donnerstag abend Kartoffeln im Glas zu essen? Sie sehen sich an und müssen lachen. Die Stimmung wird momentweise sogar albern. Schliesslich nimmt Karl vorsichtig Silvias Hand.

SILVIA: Wie war das. Im Koma?

KARL: (die Achseln zuckend) Meine Organe spielen verrückt. Alles grell. Mit Hall unterlegt. Einem Herzschlag. Der verdammt laut ist. Meine Ohren rauschen. Wenn hier Gras wäre, würde ich es wachsen hören. Meine Wahrnehmung ist total gestört. (erstaunt) Du siehst fantastisch aus.

SILVIA: (trocken) Danke.

KARL: Gänsehaut. Am ganzen Körper. (seinen Arm zeigend) Guck mal.

SILVIA: (über seinen Arm streichend) Tatsächlich.

KARL: (lustvoll aufstöhnend) Besser als Sex. (als Silvia ihre Hand abrupt wegzieht) Was ist.

SILVIA: Ich ärgere mich über mich. Wie konnte ich soviele Jahre glauben, dass du der Richtige für mich bist.

KARL: Das wars eigentlich nicht, was ich hören wollte.

SILVIA: Ich will nicht in den Bayerischen Wald. Indien oder Nepal habe ich vorgeschlagen. Japan. Ceylon. Wohin auch immer.

KARL: Du meinst Sri Lanka.

SILVIA: Die Ärzte sagen, dass manche Patienten nach so einem Koma verändert aufwachen. Dass sie einen mit neuen Eigenschaften und Charakteristika überraschen. Nahtoderfahrungen gemacht haben. (schlussfolgernd) Bei dir ist das leider nicht der Fall.

KARL: Trotzdem könnte dies ein Neuanfang sein.

SILVIA: Nein.

KARL: Wegen Hans.

SILVIA: Wie gesagt: Das geht dich nichts an.

KARL: Ich bin dein Mann.

SILVIA: Diese Tatsache hat dich über Jahre nicht davon abgehalten, nicht nur eine feste Geliebte – nämlich Ursula – zu haben, sondern auch noch jede Menge junger Frauen ins Visier zu nehmen.

KARL: Ist er jünger als ich.

SILVIA: Er ist volljährig. Was du bestimmt nicht immer garantieren kannst.

KARL: (aufgebracht) Vielleicht hat mich das Koma ja verändert. Kann doch sein. Lass uns das rausfinden.

SILVIA: Du hast einfach Angst, im Alter allein zu sein.

KARL: Du etwa nicht?

SILVIA: Das ist kein Grund, um zusammen zu bleiben.

KARL: Nein? (nach einer Pause) Es tut mir leid. Es tut mir leid.

SILVIA: Ich weiss, dass du es in diesem Moment ernst meinst. Belassen wir es dabei.

KARL: (überdrüssig) Natürlich. Der Schuldige bin ich: Ich war derjenige, der dich nicht gesehen hat. Der dein Potential nicht wahrhaben wollte. Oder nicht ertragen hat. Ich bin dafür verantwortlich, wenn es draussen gehagelt hat, obwohl du spazierengehen wolltest. Ich bin verantwortlich für die unfreundliche Bedienung in dem Restaurant, in das ich dich vor einem Jahr eingeladen hatte. Immer ich. Sogar, wenn du ekelhaft warst, hast du mich angesehen, als sei ich die Ursache dafür.

SILVIA: Mach dich nicht über mich lustig.

KARL: Du hast auch deinen Part gespielt. Und zwar zweiundvierzig Jahre lang. Du selbst warst es, die sich zum Opfer degradiert hat. Und trotzdem gibst du mir die Schuld dafür.

SILVIA: Und dafür schäme ich mich. (nach einer Pause) Hans ist übrigens fünfunddreissig.

KARL: Du machst Witze.

SILVIA: Oder vierzig. Ich habe nicht gefragt.

KARL: (beunruhigt) Gänsehaut. Schon wieder. Das ist doch unnatürlich.

SILVIA: Liebst du mich?

KARL: (nach einer Pause) Und du? Mich?

SILVIA: (ebenso) Ich kann mich an nichts Schönes erinnern. Zweiundvierzig Jahre. Ich weiss, dass das nicht stimmen kann. Aber mir fällt nichts ein.

KARL: Warum arbeiten wir nicht daran, dass Weihnachten ein Erlebnis wird, an das wir uns später gerne erinnern.

SILVIA: Weihnachten?

KARL: Oder hab ich das verschlafen? War das schon?

SILVIA: Nein. Du weichst aus.

KARL: Ich stehe unter Beweisdruck.

SILVIA: Mir fällt nichts ein. Die Stimmung entspannt. Harmonische Momente.

KARL: Ein paar Jahre lang habe ich dir sonntags immer Frühstück ans Bett gebracht. Toast mit Butter und zwei gekochte Eier, die beide für dich waren. Dazu frisch gebrühten Kaffee. In dieser kleinen Kanne von Seltmann Weiden.

SILVIA: Ein Erbstück von meiner Schwester.

KARL: Dann hab ich dir meistens aus der Zeitung vorgelesen. Das Feuilleton. Und den Reiseteil.

SILVIA: Oder gesungen. (ihn ansehend) Mir was vorgesungen. Als Starthilfe für den Tag.

KARL: „L’Heure exquise“. Oder: „Dein blaues Auge“.

SILVIA: Das hast du ewig nicht mehr gemacht. Er beginnt ein Lied zu summen. Dann singt er für sie: eine intime Situation. Danach körperliche Nähe und Entspannung.

KARL: In jedem Fall war der Sex danach immer extrem aufregend.

SILVIA: Da hattest du auch noch nicht deine Missionarsstellungsphase.

KARL: Ich?

SILVIA: Frag Ursula. Sie lachen. Die Krankenschwester tritt auf.

SCHWESTER: (Karl erblickend) Moment mal.

KARL: (charmant auf sie zugehend und ihr die Hand reichend) Karl Bockmann, mein Name. Wenn ich mich vorstellen darf. Ich bin soeben aus dem Koma erwacht und entzückt, ihre Bekanntschaft zu machen.

SCHWESTER: (zurückweichend, beunruhigt) Nicht bewegen. So bleiben. Ich bin gleich wieder da. Mit Dr. Schweiger. (rückwärts abgehend) Dr. Schweiger? Dr. Schweiger? Silvia geht zu ihrem Mann und küsst ihn. Schweigen.

SILVIA: Es ist aus.

KARL: Das fühlt sich aber gerade ganz anders an.

SILVIA: Mit Hans. Ich habe ihm meine ekelhafte Seite gezeigt.

KARL: So schnell?

SILVIA: Ich glaube nicht, dass er zurück kommt.

KARL: (nach einer Pause) Vielleicht ist es am besten so.

SILVIA: (misstrauisch) Wieso.

KARL: Jünger wirst du nicht.

SILVIA: Du meinst meinen Körper.

KARL: Bleib.

SILVIA: Reine Sentimentalität. (tief Luft holend) Weißt du, dass ich mich oft vor dir geekelt habe? Überall diese Haare. Und diese ständige Erregung. Man zieht einen getigerten Rock an, man blondiert sich die Haare, oder was auch immer: Schon hat der Mann eine Erektion. Alles austauschbar. Vorhersehbar. Automatisch. Das kann eine Prostituierte sein. Ursula. Irgendeine Xbeliebige. Oder ich. Du brauchst mich doch gar nicht.

KARL: Tief im Inneren bin ich Romantiker.

SILVIA: (aufstehend) Das bin ich auch. Und genau deshalb will ich die Scheidung.

KARL: (liebevoll) Ein junger Kerl sieht dich freundlich an, und du bringst alles durcheinander und fängst von Scheidung an. Silvia. Ich bitte dich zu bleiben. Ich will nicht mit ansehen müssen, wie du eine von diesen frustrierten, alleinstehenden Frauen wirst, von denen es auch ohne dich schon mehr als genug gibt. Wach auf. Hier ist dein Zuhause. (zusammenfassend) Ich schütze dich vor dir. Bleib bei mir.

SILVIA: (ihn sehr genau ansehend) Danke. Ich danke dir.

KARL: Wofür.

SILVIA: Dass du schon nach wenigen Minuten deine ekelhafte Seite zeigst. Das macht es leichter. Sie geht. Stille. Die Schwester kommt zurück.

SCHWESTER: Ist Ihnen nicht gut. Dr. Schweiger wird jeden Moment da sein.

KARL: (auf seinen Arm sehend) Schon wieder.

SCHWESTER: Wo ist Ihre Frau?

KARL: Gänsehaut. (ihr seinen Arm zeigend) Da. Fühlen Sie mal.

SCHWESTER: (abrupt) Ich hole Dr. Schweiger.

Sie wendet sich kühl ab und geht.