Personen:
Ljubov Andreevna Ranevskaja
Der Kranke, Lebensgefährte der Andreevna
Anja, ihre Tochter
Petr Sergeevic Trofimov
Cheri, Dienstmädchen

Ort der Handlung: Paris. Ein Eßzimmer mit einem großen Tisch, an dem von links nach rechts Der Kranke, Ljubov Andreevna, Anja und Trofimov vor ihren Suppentellern sitzen. Der Raum strahlt schlichte Eleganz aus, die bewegungslosen Figuren scheinen mit ihren Gedanken weit weg zu sein. Niemand ißt etwas. Der Kranke ist völlig bandagiert, schaukelt vor sich hin, starrt zufrieden auf sein Essen und grunzt von Zeit zu Zeit. Alle starren nach vorne und sehen sich nicht an. Melancholie. Tödliche Langeweile. Agonie.)

ANDREEVNA: (ins Leere rufend) Cheri, wo bleiben Sie! Die Nachspeise. Bitte. Ich bitte darum. Cheri, es ist Ihr letzter Tag bei uns, aber auch heute möchte ich Sie arbeiten sehen. (nach einer langen Pause, in der Cheri eintritt) Ich bekomme nichts herunter vor lauter Leiden in meinem zeitlosen Seelenleben, das ich hier auf dramatische Weise offenlege. Ich leide, aber ich zeige meine Verzweiflung nicht. Vielleicht neige ich plötzlich den Kopf zur Seite, schließe die Augen, beherrscht, ich öffne vielleicht ein Fenster, bücke mich zu einem Bündel, das ich forttragen will, und breche in die Tränen aus, die ich seit Ewigkeiten weinen wollte, leise, kurz. Das ist tragisch, das ist komisch. Und meisterhaft lakonisch. Ein Triumph der Schauspielkunst.

ANJA: (selig, während Cheri das Geschirr abräumt) Mami, liebste, kleine Mami.

(Als Cheri den Teller des Kranken abräumt, beginnt dieser protestierendes Grunzen und Stammeln von sich zu geben. Ljubov Andreevna sieht ihn einmal scharf an, worauf er wieder verstummt.)

ANDREEVNA: (nach einer Pause) Ich bat ihn, keine Bäume abzuholzen, bevor ich nicht abgereist sei.

TROFIMOV: Ich sagte zu ihm, ob er denn überhaupt keinen Takt besäße.

ANDREEVNA: (ihn nicht ansehend) Was sagten Sie?

TROFIMOV: (während Cheri wieder abgeht) Ich sagte zu ihm, ob er denn überhaupt keinen Takt besäße.

ANDREEVNA: (unter dem erneuten Grunzen ihres Lebensgefährten) Das haben Sie gesagt?

TROFIMOV: Was?

ANDREEVNA: Ich sagte: Das haben Sie gesagt?

ANJA: (selig, so auch bei folgenden Wiederholungen) Mami, liebste, kleine Mami.

TROFIMOV: Was soll ich gesagt haben?

ANDREEVNA: Das fragte ich Sie gerade. (nach einer Pause) Petr Sergeevic Trofimov.

ANJA: Mami, liebste, kleine Mami.

TROFIMOV: Ljubov Andreevna Ranevskaja.

ANDREEVNA: Petr Sergeevic Trofimov. Wie häßlich Sie geworden sind. Wie alt.

ANJA: Mami, liebste, kleine Mami.

TROFIMOV: Ich habe nicht den Wunsch, ein schöner Mann zu sein.

ANDREEVNA: Wie häßlich. Wie alt.

TROFIMOV: Ich habe nicht den Wunsch, ein schöner Mann zu sein.

ANDREEVNA: Wie häßlich. Wie alt.

ANJA: Mami, liebste, kleine Mami.

ANDREEVNA: Bleiben Sie wahrhaft. Spielen Sie kein Theater, Trofimov. Sie prüdes Würstchen. Sie komischer Kauz. Sie Mißgeburt. (plötzlich mit gekonnter Technik auf ihren erneut grunzenden Lebensgefährten einschlagend) Sie Mißgeburt, Sie. Sie Mißgeburt. Mißgeburt. Mißgeburt.

(Die Laute des Kranken steigern sich, worauf Ljubov Andreevna von ihm abläßt. Cheri tritt mit einem Tablett ein, auf dem verschiedene Obstsorten (keine Kirschen!) liegen. Als sie das Tablett vor dem Kranken abstellt, verstummt dieser und beginnt zu lächeln.)

ANDREEVNA: (zu Cheri) Wie? Cheri, ich verstehe Sie nicht ganz, meine Liebe. Was sollen unsere offen dargebotenen Seelen, die für Außenstehende voller Entdeckungen stecken, damit anfangen? Wo bleibt das Besteck. Wo bleibt das Besteck, wie ich wohl zu Recht fragen darf.

CHERI: Entschuldigung. (sie knickst und eilt hinaus)

ANJA: (selig, so auch bei den folgenden Wiederholungen) Mein Gott, mein Gott.

ANDREEVNA: Bin ich es wirklich, die hier sitzt? (lacht) Ich möchte springen, die Arme in die Luft werfen! (schlägt die Arme vors Gesicht, stillsitzend) Ich kann nicht stillsitzen, ich kann es nicht. (freudig, unter Tränen) Was soll man bloß mit mir machen, ich Dummkopf. (weinend zu Anja) Mein süßes Kleines! Du bist der Stein an meinem Hals, er zieht mich in die Tiefe, aber ich liebe diesen Stein und kann ohne ihn nicht leben. Ich gebe immer alles, wenn ich auf der Bühne stehe, die das Leben ist, an dem ich leide, wenngleich ich meine Verzweiflung darüber nicht zeige. (küßt ihre Tochter) Du Sonne! Du Abbild meines Seelenlebens, welches ich hier auf zeitlose und - auf die Gegenwart bezogen, die es auch gibt - gleichnishafte Weise offenlege!

ANJA: Mein Gott, mein Gott.

ANDREEVNA: (sich aufstellend) Oh, meine Kindheit, meine reine Kindheit! In diesem Kinderzimmer habe ich geschlafen, von hier aus schaute ich in den Garten, jeden Morgen erwachte mit mir zusammen das Glück, alles war immer genauso wie jetzt. Nichts hat sich verändert!

TROFIMOV: (zu Anja) Ist das Ihre Tochter?

ANJA: Nein, im Gegenteil. Das ist meine Mutter.

TROFIMOV: Pardon. Sind Sie verheiratet?

ANJA: Nein, im Gegenteil. Ich bin nicht verheiratet.

TROFIMOV: Wollen Sie nicht eine Kleinigkeit essen?

ANJA: Nein, im Gegenteil.

(Währenddessen ist Cheri mit einem Tablett eingetreten auf dem sich vier Spritzbestecke befinden. Sie stellt alles vor Ljubov Andreevna ab, die sich wieder setzt. Cheri bleibt abwartend am Rand stehen.)

CHERI: Haben Madame noch einen Wunsch?

TROFIMOV: (zu Anja) Wollen Sie nicht einmal etwas anderes antworten, Anja?

ANJA: Nein, im Gegenteil.

CHERI: Haben Madame noch einen Wunsch?

ANDREEVNA: (nach einer Pause) Einen Wunsch? Wie? Ich verstehe Sie nicht, Cheri. Was für ein Auftritt. Einen Wunsch? Was wissen Sie? Ich besitze unendlich viele Wünsche, mein Kind, Sehnsüchte, aber meine leidende, voller Entdeckungen steckende Seele, die ich hier dramatisch und dennoch unverfälscht offenlege, weiß, daß meine Sehnsüchte niemals in Erfüllung gehen werden.

CHERI: Vielleicht Kaffee? Oder Tee?

ANDREEVNA: (nach einer Pause, seufzend) Ach. Wenn ich das wüßte, mein Kind. Wenn ich das wüßte.

(Ljubov Andreevna greift gedankenversunken nach einem Spritzbesteck und legt es vor sich nieder. Jedes weitere ordnet sie rituell einer am Tisch sitzenden Person zu und legt es vor diese. Nur die des Kranken liegt noch auf dem Tablett. Die übrigen werden unruhig, stöhnen und zappeln auf ihren Stühlen, bis Trofimov seine Spritze an sich reißt und seinen Ärmel hochzuzerren beginnt.)

ANDREEVNA: (vulgär, ihm die Spritze entreißend) Finger weg, Kinderficker! Scheißkerl! Was für Schweinemanieren! Her damit, Drecksau!

TROFIMOV: Fotze! Dich fick ich, bis du auseinanderfällst, du Stück Scheiße!

ANJA: (Trofimov ins Gesicht schlagend) Arschficker! Wie redest du mit Mutter! Leck dich selber, du Sau! Wann lernst du Wichser endlich, was sich gehört!

TROFIMOV: Fotzen! Fotzen! Fotzen! Frauenfotzen!

ANDREEVNA: (die mittlerweile auch die letzte Spritze zugeteilt hat, wieder distinguiert) So. Fertig. Ich wünsche einen gesegneten Appetit.

(Alle außer dem bewegungsunfähigen Kranken krempeln ihre Ärmel hoch und setzen sich einen Schuß. Die einkehrende Ruhe und Zufriedenheit wird nur durch das Grunzen des Kranken gestört.)

ANJA: Mein Gott, mein Gott.

ANDREEVNA: (zum Kranken) Du hast seit Tagen nichts zu dir genommen, Lieber. Seit Tagen nichts. (seine Spritze greifend) Ich werde dir helfen. Helfen werde ich dir.

ANJA: (während Andreevna dem Kranken das Heroin spritzt) Mein Spritzbesteck ist alt geworden. Ich müßte ein neues kaufen.

ANDREEVNA: (abgelenkt) Wohin hast du dein Spritzbesteck gelegt?

ANJA: Mami, hör doch zu!

ANDREEVNA: (die Nadel herausziehend, sich an Anja wendend) Ich darf ja nie etwas sagen!

(Stille. Plötzlich fällt der Kranke seitlich mitsamt seinem Stuhl und allem auf dem Tisch befindlichen zu Boden. Ein lautes Poltern ist zu hören. Cheri läuft sofort hin und versucht vergeblich, den Besinnungslosen oder gar Toten wieder aufzusetzen. Die übrigen reagieren nicht.)

ANJA: Was war das?

ANDREEVNA: Ich weiß nicht. Vielleicht ist irgendwo im Bergwerk ein Förderseil gerissen. Vielleicht ist ein Förderseil gerissen.

TROFIMOV: Vielleicht war es irgendein Vogel. Ein Vogel. Etwa ein Reiher.

ANJA: Oder ein Uhu. ANDREEVA: Eine Rohrdommel.

TROFIMOV: Ich glaube, ein Kuckuck.

ANJA: Oder ein Uhu.

ANDREEVNA: Eine Rohrdommel.

TROFIMOV: Ich glaube, ein Kuckuck.

ANJA: Oder ein Uhu.

ANDREEVNA: Eine Rohrdommel.

TROFIMOV: Ich glaube, ein Kuckuck.

ANJA: Oder ein Uhu.

ANDREEVNA: Eine Rohrdommel.

TROFIMOV: Ich glaube, ein Kuckuck.

ANDREEVNA: (auf das am Boden liegende Inventar blickend) Alles kaputt.

CHERI: Ich hoffe, es ist nicht meine Schuld, Madame.

ANDREEVNA: Mein Kind, was soll nur aus Ihnen werden. Auch aus Ihnen muß doch irgendwann einmal auch etwas werden.

CHERI: Ich werde von früh bis spät arbeiten.

TROFIMOV: Cheri. Einen Apfel. (bewegungslos weiterredend, während Cheri hektisch zwischen dem Kranken und dem entstandenen Chaos hin und her pendelt und versucht, Trofimovs Aufforderung nachzukommen) Man sollte aufhören, sich selbst zu bewundern. Man sollte nur noch arbeiten! Arbeiten! Die überwiegende Menschheit sucht überhaupt nichts, tut nichts und ist zur Arbeit vollkommen unfähig. Alle sind sie ernst, alle machen sie strenge Gesichter, alle reden sie nur vom Wesentlichen, philosophieren, und dabei können es alle sehen: Man sollte nur noch arbeiten! Vorwärts! Wir schreiten unaufhaltsam dem strahlenden Stern entgegen, der dort in der Ferne leuchtet! Vorwärts, nicht zurückbleiben, Freunde!

ANJA: (aufspringend, enthusiastisch) Vorwärts! Nicht zurückbleiben, Freunde! Mein politischer Einsatz ist erfolgreich. Ich ziehe Bilanz: Wir leben in einem Land, in dem Frauen hohe Positionen in Wirtschaft und Politik bekleiden und sich in keiner Weise von ihren männlichen Kollegen unterscheiden. Auch der Mann entdeckt in sich weibliche Anteile, um die wir Frauen ihn beneiden. Wir Frauen haben das Recht auf eine freie Meinung, die wir uns nicht mehr bilden können, weil uns jeglicher Zusammenhang entgangen ist. Wir alle sind Teil einer Gemeinschaft, auf deren politische Ausrichtung wir keinen Einfluß haben. Wir sind Minderheiten gegenüber tolerant, mit denen wir nie etwas zu tun haben werden. Toleranz steht überhaupt an erster Stelle: Wir finden, daß auch Behinderte Menschen sind. Und wir sind erst am Anfang. Dann beginnt das neue Leben, Mami! Das neue Leben! Mein Gott, mein Gott. (sie sinkt wieder in ihren Stuhl zurück)

ANDREEVNA: (wie vorher zu Cheri) Mein Kind, was soll nur aus Ihnen werden. Auch aus Ihnen muß doch irgendwann auch einmal etwas werden.

CHERI: Madame?

ANDREEVNA: Sie müssen sich doch für irgend etwas interessieren, Cheri, selbst Sie. Sehen Sie dem gegenwärtigen Leben an Ihrem letzten Arbeitstag in die Augen, die es Ihnen gegenüber stets geschlossen halten wird.

CHERI: Ich bin gegen die Gegenwart. Ich lausche lieber dem Abgesang auf eine Zeit, die vorbei ist, als den Tönen der Jetztzeit, in der nichts Schönes mehr vorkommt.

ANDREEVNA: Sie lieben das Alte?

CHERI: Ja.

ANJA: Sie interessieren sich für Gutsbesitzer, Gouvernanten, Zimmermädchen und Kontoristen?

CHERI: Ja.

TROFIMOV: Und Sie lieben das Leiden und die Langeweile?

CHERI: Ja.

ANDREEVNA: Dann gehen Sie zum Theater! Die verlorene Zeit! Dort ist sie aufbewahrt! ANDREEVNA, ANJA u.

TROFIMOV: Gehen Sie zum Theater!

ANJA: (von Zeit zu Zeit ausrufend) Mein Gott, mein Gott!

CHERI: Ich? Meinen Sie das wirklich, Madame?

ANDREEVNA: Wenn ich ein junges, schönes Mädchen wie Sie wäre, und ich wäre ein junges, schöneres Mädchen als Sie gewesen: ich ginge zum Theater.

CHERI: Es war stets mein Wunsch, Schauspielerin zu werden.

ANDREEVNA: Erzählen Sie den zahlenden Menschen von unseren leidenden Seelen, die wir hier vor Ihnen auf dramatische und doch unverfälschte Weise offengelegt haben.

CHERI: Aber werde ich über genügend Talent verfügen?

ANDREEVNA: Orientieren Sie sich an uns, und Sie feiern Triumphe der Schauspielkunst! Erzählen Sie unser Leben, damit wir nicht vergessen werden müssen.

CHERI: Ich verspreche es Ihnen. ANDREEVNA, ANJA u.

TROFIMOV: Worauf warten Sie! Packen Sie!

(Cheri geht erfreut ab. Es entsteht eine sehr lange Pause. Andreevna, Anja und Trofimov starren ausdruckslos nach vorne.)

ANDREEVNA: Ich warte dauernd auf etwas. Als müßte das Haus über uns zusammenstürzen.

(Das Haus stürzt über ihnen zusammen. Kurz danach tritt von irgendwo Cheri mit Gepäck auf. Sie bemerkt die Veränderung nicht.)

CHERI: (nach vorne) Ich werde aus dem "Kirschgarten" vorsprechen. Die Rolle der Anja! Sofort fange ich an, Anja zu sein.

ANJA: (unter den Trümmern) Mein Gott, mein Gott!

(Blackout. Aus.)

Benutzte Texte: Anton Cechov, Der Kirschgarten; Drei Dialoge; Nein, im Gegenteil; Michael Merschmeier, Die Zeit der Kirschen ist vorbei, in: THEATER HEUTE 3/96, S. 4-7.