ROMANAUSZUG

Vierzig Tage (Exzerpt)


Leise tritt Jan ein, da ist er ja, Vater, unter einem großen, weißen Federbett, er hat sich nicht vom Fleck gerührt, während Jan im braunen Flurbereich der Wohnung telefoniert hat, natürlich nicht, denkt Jan sich, was rede ich.
Der Vater sieht gemalt aus in seinem spitzen, nussschaligen Körper, das Werk eines traurigen Künstlers unter Vermeidung sonniger Farben, die die Augen des Betrachters angreifen, Jans Augen, die auf seinem Vater verweilen, das Gemälde eines alten Meisters oder das eines Schülers, der seinen Meister kopiert. Lautstarkes Kreisen von Kampffliegern am Himmel irritiert den Vater nicht, auch Jan nicht, er ist unbeteiligt, mit anderem beschäftigt, er hält den Geruch im Raum nicht aus, den Gestank, nach Kohlrouladen, wie er sich bei alten Frauen in Gardinen und Polstermöbeln festsetzt, Kohlrouladen, natürlich, denkt Jan, wie üblich, alles ist überall zurückgeblieben.
Jan sieht nur undeutlich, aber er braucht kein Licht, er kennt das Zimmer auswendig, in dem sein kranker Vater seit Jahren liegt, direkt vor ihm unter einem großen Federbett auf der linken Seite eines Doppelbettes, das auf der rechten Seite nicht mehr bezogen wird, die nackte Matratze streckt sich ungeniert vor Jans weggewendeten Blicken, alles in diesem Raum ist bräunlich, die Schrankwand, das Bett, die Tapete, der Teppich, die Bettpfanne abgedeckt auf dem Boden. Auf dem väterlichen Nachtschrank ein sandfarbenes Deckchen, eine mit Rüschen verzierte Lampe, instinktiv stellt Jan sie an, verquollenes Licht fällt auf die eine Gesichtshälfte des Vaters, es stört ihn nicht, er rührt sich nicht, natürlich nicht, Jan fragt sich, was er anderes erwartet hat. Das Licht dient dem Vater zum Lesen von Zeitschriften, die sein Sohn als Schund bezeichnet, die ihm vor Karl peinlich sind, der spätestens in fünfzehn Minuten hier sein wird, in der offenen Tür stehen wird, sein Blick wird auf die Zeitschriften fallen wie ein schwerer, vorhergesagter Niederschlag, natürlich, da liegen sie, wie immer auf dem Nachtschrank. Jan erkennt Fernsehprominenz, die es mit ihrem vorgeführten Leben gar nicht besser hätte treffen können, gutgelaunte junge Frauen mit Brüsten vor Körpern und Balken vor Augen, mittelmäßig nackte Tatsachen, die Jan kalt lassen, Andeutungen, die nicht weit genug gehen, häusliche Realität, die mit schnellem Handgriff in einer mit Medikamenten gefüllten Schublade verschwindet.
Jan weiß nicht, was zu tun ist, bis Karl verspätet eintreffen wird, dem Vater zu essen geben, vorlesen, Fingernägel schneiden, all das erübrigt sich, es geht um zehn bis maximal fünfzehn zu überbrückende Minuten. Immer wieder hat Jan an seinem Vater krankenpflegerische Tätigkeiten ausgeübt, heute nicht, heute wird er ihm nicht die Schleimhaut seiner gelblichen Nase einölen, um daran haftende Borken aufzuweichen, und obwohl sich eitriger Schleim an den Lidrändern des Vaters abgesetzt hat, wird er ihm die seitlich liegenden Geflügelaugen nicht mit warmem Wasser waschen oder die Lider in kreisenden Bewegungen mit Vaseline einreiben. Ein verhungertes Junges, das sein Vater ist, liegt vor ihm unter einer Woge aus Gänsefedern, ein kleines Tier, nur was für ein Tier, das weiß Jan nicht. Die Antilopen der afrikanischen Steppe haben etwas Lebhafteres, indische Elefanten sind majestätisch in ihrem Auftreten, Affen unverwechselbar, ein Haustier, das ausgeführt und wie etwas Körpereigenes gestreichelt wird, ist der Vater auch nicht, er liegt da als Kreuzung, eine Kreuzung aus etwas, das einmal war, und etwas, das nicht sein kann, die Erinnerung an etwas, das nicht ausreichend war und zu schwach ist, um mit sich Schritt zu halten.
Lichtstrahlen dringen ins Zimmer, Jan weicht zur Seite aus, tatsächlich, die Morgensonne zieht sich über den Horizont hinaus, der ihr als scharf gezogene Linie zu Füßen liegt. Wieder wird ein tonloser Himmel anfangen, sich in milchiges Weiß, in stumpfes Grau zu kleiden, immer wenn Jan aus diesem Fenster sieht, aus dem Schlafzimmerfenster seines Vaters, ist der Himmel trüb, aus dieser Perspektive hat der Himmel das aufgedunsene Gesicht eines Schwergewichtsboxers, flächig und beschädigt, sich ausschließlich mit Kraft oben haltend, im Angesicht schreiender Menschen, die den Sturz zu Boden jeden Moment beunruhigt erwarten.
Jan öffnet das Fenster, vielleicht sind nur die Scheiben schmutzig, der Himmel vielleicht nicht, der Himmel ist vielleicht eine blaue Weide voll mit Wolken, weiß wie Unschuldslämmer, unglaubwürdig, lächerlich, denkt er sich, alles bleibt wie es ist.
Parallele Streifen am Himmel, grau und in Auflösung, das Dröhnen der Kampfflieger wird lauter, das Atmen leichter, die Zimmerluft vielleicht bald schon kohlrouladenfrei, Jan stellt sich vor, wie der Gestank in den Gardinen mit Naturgewalt nach draußen getrieben wird. Der Raum ist ein Brustkorb, gefüllt mit Frischluft, belebende Spaziergänge, die für den verwelkenden Vater nicht mehr in Frage kommen, blühen in Jans Gedanken, eine Vorstellung von Frühling breitet sich aus, er will hinaus, weiter, abwesend sein.
Früher war sein Vater gutaussehend gewesen, nicht wie heute in einem geschrumpften, vogelartigen Körper, er hatte im Gegenteil über eine natürliche Überlegenheit verfügt, Feinden und Frauen gegenüber, seinen Angriffen wurde modisch frisiert und mit geöffneten Türen begegnet, eine schöne, begehrenswerte Spezies, deren Jagdrevier sich widerstandslos vergrößerte, ein Raubtier auf der aussichtsreichen Suche nach Beute, die verlegen nur darauf wartet, sich in eine Unterlegenheit zu begeben, der ganze Körper ein Atmen, eine Unversehrtheit. Jede frühe Photographie erzählt davon, zwar war der Vater in der Realität Ehemann und kein Eroberer gewesen, aber er hätte das Potential dazu gehabt und dafür von Jan geliebt, bewundert, nachgeahmt werden können, aber so nicht, denkt Jan sich, ohne mich.
Beginn des väterlichen Abstiegs war der tödliche Verkehrsunfall von Jans Mutter gewesen, erst achtunddreißigjährig, durch den Fehler eines Fernfahrers beendet wie etwas Überfälliges, zufällig in einem Weg, der zum Supermarkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite geführt hatte. Auf dem zu Hause vergessenen Einkaufszettel, den der Vater auf der Kommode im Flur gefunden hatte, war Milch, Butter, Zucker, Weizenmehl, Backpulver, Äpfel und Rosinen zu lesen gewesen, die Zutaten für einen Kuchen, den die Mutter zu backen beabsichtigt hatte. In einem ersten, unbestraften Moment war Jan erleichtert gewesen, nie hatte er Rosinen gemocht, im Gegensatz zu seinem Vater, der Rosinen geliebt und sich sofort in einem Schockzustand befunden hatte, aber das war vor zwanzig Jahren gewesen, zwanzig elende Jahre lang liegt der Vater nun bereits in diesem Loch, in diesem bierfarbenen Zimmer, und läuft aus, die Batterie eines alten Spielzeugkaninchens, eines mechanischen Angsthasens, der nach Kohlrouladen riecht. Kartoffelpüree mit Fischstäbchen und Ketchup habe ich als Kind am liebsten gehabt, Jan runzelt die Stirn, es ist ihm unerklärlich, wo dieser Gedanke jetzt hergekommen ist.
Die Zimmerwände zittern, irgendwo in einer Entfernung, die groß genug ist, um Sicherheit zu signalisieren, detoniert eine Bombe, zwei bis drei Gebäude opfern sich einstürzend. Jan reagiert genauso wenig wie sein Vater, sein einziger Gedanke ist, ob Karl es unbeschadet bis hierher schafft, hierher, wo Jan vor seinem Vater steht, einer schlaffen und kraftlosen Erinnerung seiner selbst, die ungeschlagen zu Boden gegangen ist, in Jans blauen Augen hatte sein Vater sich freiwillig in ein Fliegengewicht vernichtet, Gegner hatte es nicht gegeben.

Zehn Minuten später, Jan steht am offenen Fenst
er, wo ist mein Vater, fragt er sich, vielleicht ist Vater in der Zwischenzeit verschwunden, hat sich verabschiedet unter seiner aufgeworfenen Bettdecke, von hier aus ist er überhaupt nicht auszumachen, unsichtbar, nicht mehr da, wunderbar, Jan freut sich, nein, er ist panisch.
Eine klebrige Spur leitet Jan zum Bett zurück, dorthin, wo er ihn vermutet, den Vater, den er nie gehabt hat, je mehr Jan versucht, sich zu lösen, desto näher zieht es ihn, er wehrt sich und ist gleichzeitig neugierig, neugierig auf etwas, das er sich nicht vorstellen kann, die Abwesenheit des Vaters, das ist eine unvorstellbare Zukunft, die es bis jetzt noch nicht gegeben hat. Jan steht direkt neben dem Bett, das ist die Gegenwart, der Alltag, der Vater, da ist er ja, natürlich, was habe ich erwartet, fragt Jan sich, die Spur, die Linie verliert sich, Vater, da ist er, Reste von Fleisch und Knochen bedecken den Grauschleier des Lakens, Fallobst auf nassem Herbstboden.
Jan weiß nicht, ob er erleichtert ist, zu weit gegangen ist, er liegt plötzlich auf der ungemachten Bettseite, der rechten, der mütterlichen Seite, seit zwanzig Jahren dargeboten als Mahnmal, wie Jans Vater, da ist er ja, sein eiförmiger kleiner Hinterkopf mit unregelmäßig wenigen Haaren, verklebt wie das ölige Federkleid von Seemöwen, ein schmutziges Kleidungsstück, das den Blick freigibt auf schuppige Kopfhaut auf einem knochigen Schädel, unbeweglich, noch immer da, Jans Vater. Urinränder auf seiner Unterwäsche erinnern an die vergangenen Tage, unter der Matratze Ausdünstungen der Bettpfanne, Fliegenschwärme führen vorhersehbare Bewegungen darauf aus, Ungeziefer, nicht geladene Gäste, und doch die einzigen, von denen Jan außer sich weiß, obwohl auch Karl manchmal da ist, allerdings ausschließlich beruflich, das ist etwas anderes, denkt Jan, das gilt nicht.
Dünne Regenfäden fallen vom Himmel, Jan schmiegt sich an seinen Vater, behutsam wie wartende Löffel in der Geschirrschublade, Altersflecken und breite Warzen bevölkern den winzigen Körper, schuppig, kraftlos, reptilhaft, Jans Bauch drückt sich an die vorstehenden, harten Wirbel des Vaters, das Rückgrat eines Dinosauriers, in naturkundlichen Museen künstlich am Leben erhalten, aufgestützt auf hölzerne Krücken, Überreste der eigenen Würde, Zentrum eines leeren Raumes, in den sich außer genötigten Schülern und hauseigenen Mitarbeitern niemand verirrt.
Alles Spitze, Metallische, Lebensgefährliche hatte Jan aus der Nähe des Vaters entfernt, nichts war übrig geblieben, um sich die Pulsadern aufzuschneiden, und schließlich war er auch zu schwach geworden, um Fingernägel in sein Fleisch zu bohren. Jan erinnert sich genau, mit welchem Vorwurf der Vater ihn angesehen hatte, als er dessen blutige Unterarme verbunden und Karl angerufen hatte. Wie Glas, mit dem der Vater sich aufzuschneiden versucht hatte, fühlt Jan sich, dünn und zerbrechlich, obwohl Karl immer sagt, das sei der Zustand des Vaters.
Karl ist leitender Arzt eines privaten Krankenhauses, Schulfreund des Vaters, der Einzige, der die Reste des väterlichen Körpers regelmäßig überprüft hatte, Karl scheint dem Vater gegenüber keine Vorbehalte zu haben, obwohl der Abgrund eines unüberbrückbaren sozialen Unterschiedes zwischen ihnen besteht, Karl als leitender Arzt eines privaten Krankenhauses und Jans Vater, der jahrelang am Empfang der Polizei und des Einwohnermeldeamtes gesessen und auf Fragen eintretender Menschen nach Zimmern und Etagen mit Nummern und Namen geantwortet hatte, Zimmer zweihundertvierzehn, zweites Stockwerk links, drittes Stockwerk, sechste Tür rechts, Antworten auf Fragen, mit denen er und seine damals noch nicht überfahrene Frau zufrieden waren, friedlich und kurzsichtig, ohne mich, denkt Jan sich, widerlich, ich verstehe nicht, weshalb Karl das alles nie etwas ausgemacht hat, nie hat er etwas gesagt, nie hat er irgendetwas bemängelt, mangelnde Sauberkeit genauso wenig wie chronische Unterernährung oder das schlecht gelüftete Zimmer, seine Hausbesuche haben die Verlässlichkeit eines Uhrzeigers, und doch ist Jan froh, das Fenster geöffnet zu haben, lieber das Kreischen der Düsenjäger als alter Kohlrouladengestank, der den Raum aufbläht, den unersättlichen Bauch eines Riesen.

Schon wieder später, noch immer kein Karl, Jan ist an seinen Vater geschmiegt, nie wäre das früher möglich gewesen, immer hätte die Mutter unüberwindbar dazwischen gelegen, die Mutter, die jetzt in einem Grab liegt. Jan erinnert sich, Familienalben, Photographien seiner Mutter, immer wieder das Bild von ihr in Gummistiefeln, hinter einer abwaschbaren Schürze aus Wachstuch hatte sie im Hof gestanden und mit beruhigender Stimme auf Peter eingeredet, gestreichelt hatte sie ihn, Peter war Jans Haushuhn gewesen, er hatte es Peter genannt, obwohl es eine Henne und kein Hahn war, egal, für Jan war kein anderer Name als Peter in Frage gekommen. Jans Mutter wusste, wie wichtig Peter für Jan gewesen war, natürlich hatte sie es gewusst, es hatte sie aber nicht von seiner Schlachtung abgehalten, es hatte sie und Jans Vater nicht davon abgehalten, Peter – in Butter angebraten und in Hühnerbrühe gar gedünstet, vermengt mit Zwiebeln, Champignons und Reis – in Form von Hühnerfrikassee auf den Sonntagstisch zu bringen. Jan hatte natürlich nichts angerührt. Peter war zwar vor der Mutter davongelaufen, gegen die haarnadelförmigen Drahtvorrichtungen, die überall ausgelegt waren, hatte er aber keine Chance, schnell hatte sich eine Kralle darin verfangen. Darauf hatte die Frau von Jans Vater nur gewartet, sie hatte sich Peter geschnappt und seinen schreienden Schädel gegen einen Holzstoß geschlagen. Jan war sich sicher, dass Peter diesen Schlag nicht überlebt haben konnte, Peter hatte ihn aber überlebt, er war lediglich gelähmt gewesen, weich in mütterlicher Hand hängend wie eine gepflückte Narzisse, was der Schlächterin erleichterte, ihn auf den Holzstoß zu legen und dann mit einer überraschten Axt zu köpfen. Sie hatte aber nicht kräftig genug angesetzt, nur eine von beiden Halsschlagadern war durchtrennt worden, weshalb sie sofort noch einmal zur Axt griff, diesmal ihrer Aufgabe gewachsen, diesmal erfolgreich, Jan konnte den Kopf zu Boden fallen sehen, er blieb liegen, der Sack mit ersäuften Katzen auf dem Grund des Flusses.
Beim Abstellen der Axt musste sich ihr Griff gelockert haben, so dass Peters zuckender Rumpf entkommen konnte und enthauptet in eine blinde Himmelsrichtung lief, ein kurzer unansehnlicher Tanz zwischen vier eingrenzenden Hofwänden, um doch wieder in den mitleidlosen Händen seiner Mörderin zu landen. Sie hielt Peters Rest nach unten, das Blut lief in einen Eimer, der bald halb gefüllt war, Jan konnte sehen, wie der Schnabel des am Boden liegenden Kopfes sich weiter bewegte, sprachloses Auf- und Zuschnappen, das die Mutter dazu anregte, Jan zu zeigen, was passiert, wenn man an den Sehnen der abgetrennten Krallen zieht, dann bewegen sie sich nämlich wie eine Greifhand, sie hatte ihm dies im Bemühen gezeigt, ihn aufzuheitern, aber das war natürlich vergeblich. Später wurde Peter in einen Eimer mit kochendem Wasser eingetaucht, ewig schien Jan das zu dauern, aber die Frau seines Vaters hatte beteuert, dass es sich höchstens um eine Minute gehandelt habe, der Vorgang habe zum Ablösen der Federn gedient, dann erst könne das Huhn gerupft werden, wobei man im Brustbereich sehr vorsichtig sein müsse, um nicht ganze Daunenbüschel auszureißen, an denen oft noch eß- und verwertbare Haut- und Fleischstückchen hingen. Jan hatte beim geschäftigen Rupfen zugesehen, überall im Hof flogen Peters Federn herum, verfrühter Schnee, auf unvorbereitete Erde fallend, auch auf den blutigen Händen, dem schweißnassen Körper sowie dem Gesicht der Mutter verfing er sich, immer mehr mutierte sie zu einem gefährlichen Schneemann, dessen unbeteiligte Kälte knackt wie die Oberfläche des zugefrorenen Sees. Niemand befand sich auf diesem See, ausgenommen Jan, sich ängstlich vorstellend, wie er bei der leisesten uferwärts gerichteten Bewegung einbricht und ertrinkt.
Auf einer großen, sauberen Tischplatte im gut beleuchteten Küchenbereich hatte Peter dann gelegen, als warte er darauf, nach einer für Kinder verständlichen Bastelanleitung zusammengesetzt zu werden, bereit, sich den Kopf wieder aufschrauben, die Krallen festdrehen und die Federn weiß malen und wieder ankleben zu lassen. Die Mutter aber war gerade gar nicht in Spielstimmung gewesen, sie setzte ein Messer an Peters Hals, aus dem sie vibrierende, fadenwürmerartige Innereien herauszog, die sie Jan gegenüber als Luftröhre, Speiseröhre und Kropf bezeichnete. Die Katze hat sich darüber gefreut. Schon war das kleine Küchenmesser angesetzt, der Rumpf umgedreht und behutsam – wie nach einem Schnittmuster – bis zur Kloake aufgetrennt. Jan erfuhr, dass zuerst die Bauchhöhle geöffnet und dann der Darm herausgeschnitten werden müsse, Vorsicht sei dabei allerdings geboten, damit kein Kot austrete, der das Fleisch verschmutze, sagte die Frau seines Vaters, dann war sie mit der Hand an den Eingeweiden vorbei in die Bauchhöhle gefahren, hatte mit den Fingern rundherum die dünne Bindegewebshaut abgelöst, die Eingeweide umgriffen und sie aus dem Unterleib des Geflügels herausgezogen, ein Neugeborenes, das seinem Vater nicht ähnlich sah, schon jetzt beschmutzt und geduckt in Erwartung des Schlages. Magen, Leber, Darm wanderten in den Abfall, Lungenreste, Knorpelteile, Eierstöcke wurden entfernt, dann konnte das Fleischstück gründlich unter fließend kaltem Wasser gereinigt werden.
Am meisten hatte Jan beeindruckt, dass sich im Inneren von Peter ungelegte Eier befunden hatten, aufgereiht und in Richtung der Eierstöcke immer kleiner werdend, gerade erst dabei, Kalk zu bilden mit einer weichen Haut, beweglich und lebendig. Ein eigentlich unwesentliches Detail, aber etwas daran hatte Jan an eine Zukunft gemahnt, die er gerne hinter sich hätte, die er einmal hinter sich haben würde wie seine Mutter ihren Unfall. Überfahren ist sie worden von einem Mercedes oder Volkswagen, gleichgültig, denkt Jan, solange sie tot ist, sind Details unwichtig.

Bruchteile von Sekunden später, Jan springt auf
und verlässt die Bettseite der überfahrenen Frau seines Vaters, da ist er ja, da liegt er ja, jetzt wieder auf dem Rücken, der Vater, der Kopf ist größer als der brathähnchengroße Brustkorb, seitlich hängen ziellos zwei als Arme getarnte Aale herunter, nur das Geschlechtsteil des Vaters steht gerade, es wirft einen starren Blick nach oben, als gelte es Befehle zu empfangen oder den gönnerhaften Augenkontakt mit einer Respektsperson zu ergattern. Wie hatte Jan die Dankbarkeit in den Hundeaugen des Vaters verachtet, wenn irgendein am Empfang vorbeikommender Kommissar oder ein anderer Vorgesetzter ihn zufällig gegrüßt oder auch nur bemerkt hatte, winselnd hatte der Vater an seinem Arbeitsplatz gelauert auf irgendeine Form der Aufmerksamkeit, die Jan mit in italienischen Designerschuhen befindlichen Füßen getreten hätte, weit weg in ein Land, in dem sein dumpfgesichtiger Vater mit stolzem, selbstbewusstem Blick ein anderer gewesen wäre als der Feigling, Schwächling, Versager, der er war. Irritiert starrt Jan auf den steifen Penis seines Vaters, der alte Stecher, denkt Jan sich, wieso hat er jetzt einen Ständer, aber dann fällt Jan ein, dass das ein Effekt der Leichenstarre ist, auch Erhängte haben in der Regel eine Erektion, darüber hatte er wiederholt gelesen, woran der Vater wohl gestorben ist, gleichgültig, sagt Jan sich, ich brauche ihn nicht, ich pfeife fünfunddreißigjährig auf die Liebe, die ich nie von ihm bekommen habe, die kann er mit ins Grab nehmen, das ich teuer bezahlen werde, es sei denn, er hat Ersparnisse, aber Jan hat bereits mehrmals die gesamte Wohnung nach Geld, Wertgegenständen und geheimen Konten durchsucht und nichts gefunden.
Wahrscheinlich Herzversagen, Herzversagen mit hoher Wahrscheinlichkeit, Lebensunfähigkeit aus Schwäche ist auch möglich, der Vater, der früher einmal so ausgesehen hatte wie Jan heute, mit dunklem, vollem Haar auf Kopf, Brust, Unterbauch und Beinen, mit einem athletisch schönen Körper und einem funktionsfähigen, pünktlichen Penis, täglich bereit und steif und nicht das Resultat einer Leichenstarre wie beim Vater, einem Vater, von dem nichts übrig geblieben ist, der ausgelaufen ist, ein Leck, behäbig in ein Weltmeer sickernd, in dem Jan nicht baden würde, im Gegenteil, Jan entfernt sich, er zieht sich zurück, aber an der Tür bleibt er stehen, er muss auf Karl warten, noch immer ist Karl nicht da, obwohl er gesagt hat, er brauche im Höchstfall fünfzehn Minuten. Hoffentlich ist ihm nichts passiert, die Luftangriffe auf die Innenstadt sind in letzter Zeit immer unkontrollierter geworden, die Zahl der Vermissten steigt täglich, aber Karl ist zuverlässig, Karl ist nicht tot oder schwer verletzt, Karl wird mit Sicherheit eine Autopsie vornehmen, um die Todesursache des Vaters festzustellen. Andererseits, weshalb sollte Karl eine Leichenöffnung anordnen und ausführen, der Vater kann nur eines natürlichen Todes gestorben sein, er war zu schwach, um Hand an sich zu legen, nicht einmal das hast du geschafft, du Todeszwerg, lacht Jan, an Schwäche bist du gestorben, unauffällig, mittelmäßig, die einzigen anderen Möglichkeiten sind Herzversagen oder Schlaganfall, eine Variante deprimierender als die andere.
Karl hatte einmal von seiner Zeit beim Amtsgericht erzählt, in der er als Protokollführer für Leichenöffnungen tätig gewesen war, Student sei er damals gewesen, niemand außer ihm hatte sich freiwillig gemeldet, Karl aber hatte gedacht, das sei eine gute Gelegenheit, um Erfahrungen zu machen, die er gerne so früh wie möglich hinter sich haben wollte, wie auch immer, grundsätzlich sei ihnen mit dem Öffnen der Tür ein erbärmlicher Leichengestank entgegengekommen, ein Verwesungsgestank nach ranziger Butter und scharfem Ammoniak, an den man sich gar nicht gewöhnen könne, jedes Mal wieder habe dieser Geruch bei Karl und den anderen Anwesenden Übelkeit ausgelöst. Auch der Anblick der Toten sei kein schöner gewesen in den durch Gasentwicklung aufgeblähten Leibeshüllen, mit den grünlich verfärbten Bäuchen. Die nach außen drängenden Venen hätten wiederum wie schwarze Netze ausgesehen, Zunge, After, Penis und Vulva würden vorgetrieben, die Zähne fielen aus und durch den Druck entwichen Mund und Nase allerlei Flüssigkeiten, deren exakte Beschreibung Karl unmöglich sei. Sehr gewöhnungsbedürftig sei das alles für Karl gewesen, die Ärzte vom Gerichtsmedizinischen Institut aber, die Ärzte seien sehr professionell gewesen, keine Regung sei ihnen anzusehen gewesen, Karl habe damals viel von diesen Männern gelernt, wie er immer wieder sagte, vor allem, sagte er, habe er gelernt, dass Natur nicht schön sei. Die meisten Menschen verstünden unter Natur blühende Wiesen, saftige Weizenfelder und den mit einem Ausflug ins Grüne verbundenen Erholungsfaktor, für Karl aber sei das seit seiner Zeit am Gerichtsmedizinischen Institut als Schein erkennbar geworden, Natur sei nicht grün, nicht schön, Natur sei vulgär, gewöhnlich, und er habe mit jedem Offenlegen eines menschlichen Innenlebens, zum Beispiel wenn eine abgetrennte Kopfhaut vom Nacken zum Gesicht gezogen wurde, mit jedem Offenlegen eines menschlichen Innenlebens habe er den Eindruck gewonnen, dass nicht nur Natur an sich, sondern auch die menschliche Natur vulgär sei, vulgär, weil geheimnislos. So viel würde hineingelegt in die Existenz, Seele, Intuition, Leben nach dem Tod, Karma und so weiter, aber beim Anblick eines bloßgelegten Schädels sei nichts zu sehen außer einem Gehirn, undurchdringlich in seinen Windungen, irgendwie vergeblich, wie Karl immer wieder sagte. Der Mensch sei nicht zu einem besonderen Zweck geschaffen, von einem Gott schon gar nicht, er sei einfach, er sei ein Produkt der Evolution, dankbar könne der Mensch sein, wie Karl immer sagte, dass er kein Neandertaler oder irgendeine Affenart sei, heute habe der Mensch ja die Möglichkeit zum Salonlöwen oder zum Charakterschwein, immer hatte der Vater gelacht über diese Pointe, auch die Mutter hatte darüber gelacht zu Zeiten, in denen sie noch nicht überfahren gewesen war, auch Jan hatte gelacht, er hatte das Lachen der anderen imitiert, um dazuzugehören, wie ein Esel hatte er sich gefühlt, ein Tier, das Karl nie erwähnt hat.
Oft sei es ekelhaft gewesen, sagte Karl, was nach der Autopsie mit den Leichen gemacht worden war, zum Beispiel habe man das herausgenommene Hirn einfach in den Bauchraum getan und den Kopf mit den Feuilletonseiten der Tageszeitung ausgestopft, die niemand habe lesen wollen, oder einmal habe er auch gesehen, wie ein Teil des Darms in die ausgekratzte Hirnschale gelegt und eingenäht worden war, es habe ja letztlich keine große Rolle gespielt, der Mensch sei ja tot gewesen, aber pietätlos sei es Karl am Anfang doch vorgekommen, sogar übergeben habe er sich einmal nach dem Beobachten eines solchen Vorganges. Als seine Mutter beispielsweise vor mehr als einem Jahrzehnt an einer Überdosis Diätpillen verstorben sei, habe man eine Leichenöffnung angeordnet, von Amts wegen eine verständliche Entscheidung, die Karl aber, im Hinblick auf den Respekt, den er seiner Mutter zollte, zu verhindern gewusst habe. Das sei er seiner Mutter einfach schuldig gewesen.
Ich werde nichts gegen eine Autopsie an Vater einzuwenden haben, denkt Jan, im Gegenteil, überlegt er, vielleicht erzähle ich, dass ich eine volle Packung Schlaftabletten vermisse oder dass die Wohnungstür offenstand, als ich heute gekommen bin. Jan plant kurzerhand, einen vollzogenen Raubüberfall zu simulieren, in Gedanken haben seine behandschuhten Hände bereits sämtliche Schränke, Schubladen und Schreibtischfächer geöffnet, aber dann fällt ihm ein, dass Karl jederzeit hier sein könnte, fünfzehn Minuten hatte er gesagt, fünfzehn Minuten scheinen Jan seit mindestens fünfzehn Minuten vorbei zu sein, es bleibt keine Zeit, es bleibt bei der Anfangsidee, die offenstehende Wohnungstür und die fehlende Packung Schlaftabletten. In jedem Fall muss eine Autopsie am Vater ausgeführt und seine Kopfhaut über die hervorquellenden Augen gezogen werden, er war vulgär, ohne Geheimnis, irgendwie vergeblich, Karl hat mit allem, was er sagt, Recht gehabt, hoffentlich ist er bald da, Jan wird immer ungeduldiger.

Später. Immer unerträglicher ist Jan der Blick
des Vaters, der als Tätowierungsnadel in die Haut seines auf und ab gehenden Körpers dringt und Schuldgefühle einritzt, weshalb verlasse ich den Raum nicht, fragt Jan sich, weshalb gehe ich nicht in die Küche oder auf die Toilette, zur Ausgangstür, an der ich Karl und eventuelle Assistenzärzte erwarte, doch Jan weiß, dass er bleiben wird, wohin auch immer er wegsieht, er hat seinen Vater vor Augen, er entkommt ihm nicht, dem Vogelähnlichen, da liegt er, der Fäulnisprozess hat eindeutig noch nicht eingesetzt, der Vater ist kalt und starr, tot, eine Leiche, aber dann zuckt Jan zusammen, er hat Angst, dass sein Vater immer so hart gewesen sein könnte, durchaus möglich, überlegt er sich, woher weiß ich, dass dies die Leichenstarre ist und nicht sein natürlicher Zustand. Er überlegt, ob sein Vater vielleicht vorgibt zu schlafen und die ganze Zeit mithört, habe ich etwas gesagt, das gegen mich ausgelegt werden kann, ich glaube nicht, dass ich geredet habe, außer mit Karl am Telefon, aber da war Jan natürlich höflich, Karl, hat er gesagt, etwas mit Vater ist nicht in Ordnung, was denn, hatte Karl gefragt, er regt sich nicht, Jan klang in Karls Ohren, als sei er außer sich, er liegt auf dem Rücken und regt sich nicht, liegt einfach nur da auf seiner Bettseite unter einem weißen Federbett, ganz steif, ich weiß nicht, ob er noch lebt, ich glaube, er ist tot, oh je, hatte Karl gesagt, ich bin in circa fünfzehn Minuten da.
Sein Schamhaar ist grau, Jan sieht genau hin, ein fleischiger Zeigefinger mit walnussartiger Eichel ragt mahnend nach oben, Jan gestattet sich die Aufsicht auf den toten Penis seines Vaters, der vielleicht größer als sein eigener ist, vielleicht auch nicht, es ist der einzige nicht geschrumpfte Körperteil, der, aus dem er entstanden ist, aus einem schmalen Kanal, der Harnröhre, ist er als Sperma geschleudert worden, zusammen mit Millionen anderen, die es alle nicht geschafft haben, die alle auf der Strecke geblieben sind, Jan ist als Einziger übrig.
Jans Hand umschließt den väterlichen Penis und erreicht mit Leichtigkeit, dass die Kuppen von Daumen und Zeigefinger seiner Hand sich berühren, plötzlich tut sein Vater ihm leid, er streichelt das verletzte Tierchen, den Vogel, der aus dem Nest gefallen ist, zärtlich streichelt er den Penis des Vaters, mütterlich, das geht ganz automatisch. Jan fragt sich, ob ein Toter noch einen Samenerguss haben kann, vielleicht ist es möglich, noch einmal ganz von vorne anzufangen und Augenzeuge seiner zweiten Entstehung zu sein.
Jan starrt auf seine Finger, die das steife Tier umfassen, da liegen sie vor ihm wie Ölsardinen, bin ich dieser Geruch nach totem Fisch, fragt er sich, nein, es ist der Vater, sein harter Penis, der ihn anstarrt, ein Aal, von wegen Kohlroulade, denkt Jan ärgerlich, es riecht überhaupt nicht nach Kohlroulade, es stinkt nach Fisch, nach altem Fisch, es ist der Penis seines Vaters, der nach Fischabfällen riecht. Jan ekelt sich vor Fisch, aber er umklammert ihn, den Penis, er wirft seine Netze aus in eine Welt, in der nichts für ihn zu holen ist, zwei versteifte Glieder, das seines Vaters und sein eigenes, unglaublich, Jan ekelt und erregt sich, ganz nah ist er auf einmal dem eichelförmigen Maul des Aales, hier ist er beheimatet, dieser Geruch nach totem Fisch, schnell zieht Jan aus seiner Hose ein besonders großes Exemplar hervor, das sich widerspenstig an seinen Fingern reibt, er wird es befreien. Jan fragt sich, weshalb er noch nie Aal gegessen hat, Aal, eindeutig einer der faszinierendsten Fische, der bis zu eineinhalb Meter lang und sechs Kilo schwer wird, das Fleisch ist fett und schwer verdaulich, doch Jan will dieses Fleisch, das unbeweglich vor ihm ist, er taucht hinab zu seinem Vater, er schwimmt mit dem Strom, er probiert, vorsichtig lässt er seine Zunge über die Haut gleiten, nichts Außergewöhnliches ereignet sich, was tue ich, fragt Jan sich, dann lässt er den Kopf des Aales in seine Mundhöhle gleiten, es stimmt, das Fleisch ist fett, vielleicht ist es verdorben, es ist über das Verfallsdatum, und doch kann Jan nicht von ihm ablassen, den ganzen Fisch versucht er auf einmal, der sich als Flutwelle in seinem Mundraum ausbreitet. Plötzlich hat Jan ein Untergangsgefühl, er kann überhaupt nichts mehr erkennen, sein Körper dröhnt, er dehnt sich, er platzt, eine aallarvenfarbige Masse entlädt sich in dünnen Fäden, es bricht aus ihm hervor, hoch an die Wasseroberfläche, die Jan unerreichbar weit erscheint, schon jetzt bekommt er keine Luft mehr, er will hinterher, ich muss hier endlich weg, denkt er panisch, nichts wie weg, sonst sterbe ich.

Jan schiebt seinen Penis wieder in die Hose zurück, er tritt vor seinen Vater und schlägt zu, links und rechts, mit voller Kraft, immer wieder trifft seine Handfläche das starre Gesicht des Vaters, das ist kein Mensch, das ist eine Abwesenheit, die Jan nicht verdrängen kann, seine Hand ist rot angelaufen, wie die Liebe, die es hier für ihn nicht gibt, er schwitzt und wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht, von wegen Schweiß, es sind Tränen, Jan erträgt den Blick seines Vaters nicht, er will nicht, dass er ihn so sieht, er greift das Kopfkissen und drückt es dem Vater ins Gesicht. Der Vater taucht darin ein, ein Baumwollfeld mit ungepflückten, flauschigen Blüten, in dem er verloren geht, Jan ist erleichtert, dass nichts von ihm übrig bleibt. Um sicher zu sein, übt Jan etwas mehr Druck aus, wer weiß, vielleicht war doch noch etwas im Vater am Leben, das den Weg aus den unbestellten Feldern wieder herausfindet und Jan anklagt, den Vater umgebracht zu haben, was würde Karl sagen, wenn er allein oder in Begleitung von Assistenzärzten in diesem Moment ins Zimmer träte und Jan über seinem Vater sehen würde, ihm ein weißes, luftiges Kopfkissen ins Gesicht drückend, der Tatbestand wäre eindeutig. Jan würde an Karls Stelle dasselbe annehmen, aber noch ist Karl nicht da, und Jan ist nicht in der Lage, den Vater aus den Baumwollfeldern hinauszugeleiten, warum, kann er nicht sagen, Insekten krabbeln auf seiner Zunge und verhindern, dass verstehbare Gedanken in klare Wörter umgesetzt werden, sie spannen ihre feingliedrigen Flügel, schwirren aus seinem Hirn durch das geöffnete Fenster und werden zu Schwärmen, die sein Geheimnis über die ganze Stadt verbreiten. Jan sieht sich zu, er stellt fest, dass er noch immer zudrückt, die Matratze und der Lattenrost geben nach und quietschen unter ihm, nein, sie quietschen nicht, sie knarren und knacken in einem vergeblichen Versuch, Widerstand zu leisten, ihre Töne sind unhörbar, eine zeitgenössische Musik, vor deren Disharmonien Jan die Ohren verschließt. Er blickt in eine weiße Landschaft, die sich vor ihm als Ziel eröffnet, dies ist der erträgliche Weg, dies ist der aushaltbare Vater, dessen Leiche im blickdichten Kissen erstickt, jetzt ist ein Krachen zu hören, ein Brechen, das ist der Lattenrost, seit zwanzig Jahren unter dem Vater als künstliches Rückgrat, Jan hat sein eigenes Bett, er braucht den Rost nicht, der Bruch ist ihm gleichgültig, er beruhigt sich, endlich, atmen, endlich.
Jan steht auf und blickt auf ein hängendes Bett, in dem irgendwo etwas Unsichtbares unter weißen Federn und Blüten begraben liegt, im Augenblick genügt Jan die Vorstellung des abwesenden Vaters, der nicht an Herzversagen, Schlaganfall oder Lebensschwäche gestorben ist, weil er stark ist und schön ist und wie ich, sagt Jan sich, Versager, ich verachte dich dafür, dass du es dir so leicht gemacht hast, es ist Jan, der das sagt, ich bin erfolgreich, ich bin gutaussehend, ich bin beliebt, es gibt für mich keinen Grund, aufzugeben, ich kann Tag für Tag gar nicht genug vom Leben haben!, jetzt schreit Jan auf einmal, zu seiner eigenen Überraschung weint er, wirklich höchste Zeit, dass Karl kommt. (...)

Vierzig Tage: Literaturverlag Droschl Graz – Wien 2006